Zionismus

Der Zionismus ist die jüdische Nationalbewegung, die seit dem späten 19. Jahrhundert die Errichtung einer jüdischen Heimstätte (später eines Staates Israel) in Palästina anstrebte. Geprägt vom europäischen Nationalismus und als Reaktion auf Antisemitismus – etwa Pogrome in Osteuropa und Ereignisse wie der Dreyfus-Affärein Frankreich – formulierte Theodor Herzl 1896 in Der Judenstaat das Konzept eines souveränen jüdischen Staates. 1897 fand der erste Zionistenkongress in Basel statt, wo Delegierte aus vielen Ländern über die Zukunft eines jüdischen „Heimatlandes“ diskutierten.


Viele liberal gesinnte Jüd:innen Westeuropas standen dem Zionismus anfangs zögerlich gegenüber. In Deutschland, Frankreich oder den USA waren Jüd:innen im 19. Jahrhundert durch Emanzipation zunehmend in die Mehrheitsgesellschaft integriert (assimiliert) und fühlten sich ihrem Heimatland patriotisch verbunden. So sahen viele deutsche Jüd:innen ihre Treue zu Kaiser und Vaterland nicht im Widerspruch zum Judentum. Entsprechend fürchteten einige, die zionistische Forderung nach einem jüdischen Nationalstaat könnte ihre hart erkämpften Bürgerrechte in Frage stellen. Tatsächlich blieben um 1900 die Zionist:innen in Deutschland eine Minderheit: Während der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens – die Organisation der assimilierten, antizionistisch eingestellten Jüd:innen – in den 1920er Jahren rund 60.000 Mitglieder zählte, kam die Zionistische Vereinigung für Deutschland nur auf etwa 20.000. Dennoch engagierten sich auch liberal gesinnte Jüd:innen in Hilfsprojekten für verfolgte osteuropäische Juden: So gründete sich 1901 in Berlin der Hilfsverein der deutschen Juden, um bedrängten „Ostjuden“ zu helfen. Diese Hilfe war jedoch eher humanitär als zionistisch motiviert – man unterstützte lokale Gemeinden in Osteuropa und erleichterte die Auswanderung verfolgter Juden, meist nach Amerika, anstatt aktiv zur Ansiedlung in Palästina aufzurufen .


Im Verlauf des frühen 20. Jahrhunderts gewann der Zionismus an Rückhalt. Die Balfour-Deklaration von 1917 – in der Großbritannien die Einrichtung einer „nationalen Heimstätte“ für das jüdische Volk in Palästina unterstützte – und die Schockwirkung des Ersten Weltkriegs führten zu einer breiteren jüdischen Unterstützung der zionistischen Idee . Spätestens nach dem Holocaust (Schoah) änderte sich die Haltung selbst vormals skeptischer Jüd:innen radikal: Angesichts der Vernichtung des europäischen Judentums wurde ein eigener Staat als Überlebensnotwendigkeit verstanden. 1948 entstand der Staat Israel – ein Ereignis, das von nahezu allen Strömungen des Judentums, einschließlich der liberalen, als historischer Meilenstein begrüßt wurde.


In der Reformbewegung vollzog sich ein bemerkenswerter Meinungsumschwung. Hatten führende Reformrabbiner in der sogenannten Pittsburgh-Plattform von 1885 noch betont, dass Jüd:innen kein Nationenvolk mehr, sondern nur noch eine Religionsgemeinschaft seien – was einer klaren Absage an einen politischen Zionismus gleichkam –, so änderte sich dies ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Prominente liberale Rabbiner unterstützten zunehmend den Zionismus. Ein Beispiel ist Rabbiner Stephen S. Wise in den USA, der zu einem führenden Kopf der zionistischen Bewegung wurde. Er gründete 1922 ein eigenes Rabbinerseminar in New York (das Jewish Institute of Religion), um eine neue Generation pro-zionistischer Reformrabbiner auszubilden, und galt bis zu seinem Tod 1949 als einer der wichtigsten Fürsprecher des Zionismus in der amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft. Insgesamt lässt sich sagen, dass bis zur Staatsgründung Israels die meisten liberalen jüdischen Gemeinden – ob in Europa oder Amerika – den Zionismus angenommen hatten, wenngleich oft mit der Betonung, dass der zukünftige Staat demokratisch und gerecht sein müsse.

Aus reformjüdischer Sicht wird der Zionismus im Lichte der Vernunft und der ethischen Mission des Judentums betrachtet. Traditionell warteten religiöse Jüd:innen auf den Messias, der eines Tages das jüdische Volk zurück ins Land Israel führen würde. Der moderne Zionismus hingegen war ein Bruch mit dieser Vorstellung – er setzte auf menschliches Handeln statt auf göttliches Eingreifen. Reformjüd:innen hatten die Messias-Erwartung bereits im 19. Jahrhundert neu interpretiert: statt eines persönlichen Erlösers betonten sie die Idee eines messianischen Zeitalters (eine allmähliche Verbesserung der Welt). Insofern stand die Reformbewegung der Idee positiv gegenüber, jüdische Verantwortung selbst in die Hand zu nehmen. Allerdings lehnte das klassische Reformjudentum anfangs die Vorstellung ab, das Judentum solle wieder einen politischen Nationalcharakter annehmen – man sah seine Aufgabe eher darin, die Werte des Judentums in der Diaspora zu leben und universalistische Ethik zu verbreiten.


Im 20. Jahrhundert wurde der Staat Israel dann zunehmend auch theologisch in das reformjüdische Denken integriert. Reformjudentum fasst Zionismus heute als Teil des jüdischen Auftrags auf, allerdings mit einem starken Fokus auf die moralischen und religiösen Werte, die damit einhergehen. Ein zentrales Anliegen ist, dass Israel den prophetischen Idealen gerecht wird. So formulieren es Reformzionist:innen selbst: Die Arbeit des Zionismus sei mit der Staatsgründung 1948 nicht beendet – Israel müsse vielmehr ein „Erbe der prophetischen Tradition des jüdischen Volkes“ werden, also eine Nation, die Gerechtigkeit verfolgt und eine bessere Welt schafft. Zionismus wird demnach nicht nur als politisches Projekt gesehen, sondern als Chance, die sozialen Visionen der biblischen Propheten zu verwirklichen (etwa Gleichheit, Frieden und Mitmenschlichkeit).


Reformjüdische Theolog:innen betonen, dass ein jüdischer Staat im Einklang mit den Grundwerten des Judentums stehen muss. Reform Zionism – also der Zionismus in der reformjüdischen Ausprägung – bejaht ausdrücklich das grundlegende Ziel des klassischen Zionismus, einen sicheren jüdischen Staat in der angestammten Heimat zu haben . Gleichzeitig versteht er dieses Projekt als „lebendiges nationales Kulturleben“, das die höchsten Ideale des Judentums verkörpert . Dazu zählt insbesondere, dass Jüd:innen frei und gleichberechtigt als Bürger:innen der Welt leben können und zugleich als Jüd:innen zur globalen Zivilisation beitragen. Mit anderen Worten: Der Zionismus soll es ermöglichen, dass jüdisches Leben in Selbstbestimmung erblüht, ohne die Verantwortung der Jüd:innen für das Allgemeinwohl der Menschheit zu vernachlässigen. In der reformierten Liturgie und Lehre wird Israel heute als Zentrum der jüdischen Identität angesehen – eine Mitte unter mehreren. Man betont die Idee von Klal Israel, der Einheit des jüdischen Volkes weltweit: Israel und Diaspora gehören untrennbar zusammen. Viele Reformgemeinden gedenken Israel in Gebeten und unterstützen aktiv Projekte dort, wobei sie theologisch weniger einen Gottesauftrag zur Landnahme sehen, sondern eher eine historische Chance, jüdische Werte in einem Staat umzusetzen.


Einige reformjüdische Denker:innen beschreiben Zionismus als Bündnis zwischen dem jüdischen Volk und seiner Geschichte: Die Rückkehr nach Zion (Jerusalem) wird nicht als wundersames Ereignis verstanden, sondern als Ergebnis menschlicher Initiative und Zusammenarbeit mit göttlichen ethischen Prinzipien. Wichtige Begriffe sind dabei Tikkun Olam (die „Reparatur der Welt“) – Zionismus soll zur Verbesserung der Welt beitragen – und die Vision vom „Licht der Nationen“ (ein alttestamentliches Ideal, wonach Israel durch Gerechtigkeit und Gesetzestreue ein Vorbild für andere Völker sein soll). In reformjüdischer Sicht kann Israel dieses Ideal anstreben, indem es Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung für alle Einwohner:innen verwirklicht. Tatsächlich zitiert die Reformbewegung gerne Israels eigene Unabhängigkeitserklärung, die verspricht, der Staat werde „auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden gegründet sein …, allen seinen Bewohnern völlige Gleichberechtigung … gewährleisten sowie Freiheit der Religion und des Gewissens“ bieten. Die Unterstützung des Zionismus geht für Reformjüd:innen daher Hand in Hand mit Kritik und Verantwortung: Man fühlt sich verpflichtet, Israel dazu anzuhalten, diesen hohen ethischen Ansprüchen gerecht zu werden, im Geist der Propheten. Zusammengefasst sieht die reformjüdische Theologie im Zionismus nicht nur die Erfüllung nationalistischer Wünsche, sondern einen Weg, jüdische Religion und Ethik in zeitgemäßer Form lebendig werden zu lassen – durch einen Staat, der demokratisch, pluralistisch und dem Wohl aller verpflichtet ist.

Die überwiegende Mehrheit der liberalen (progressiven) jüdischen Strömungen – einschließlich Reform- und auch konservativer (Masorti) Gemeinden – steht heute grundsätzlich zum Zionismus. Israel wird als zentrale Heimat des jüdischen Volkes anerkannt, und sein Existenzrecht wird entschlossen verteidigt. Offizielle Stellungnahmen der Reformbewegung betonen immer wieder die „unumwundene und bedingungslose Unterstützung für den Staat Israel und seine Menschen“, ausgehend von der Liebe zum Land und dem Bewusstsein einer unauflöslichen Verbundenheit zwischen dem Schicksal Israels und dem des jüdischen Volkes insgesamt. Gleichzeitig verstehen sich liberale Juden oft als kritisch-solidarisch: Gerade weil man Israel liebend verbunden ist, fühlt man sich berechtigt und verpflichtet, Kritik an Entwicklungen zu üben, die den gemeinsamen Werten widersprechen. Dieses Spannungsfeld prägt viele aktuelle Debatten.


In liberalen jüdischen Gemeinden werden unter anderem folgende Fragen intensiv diskutiert:

  • Friedensprozess: Wie kann eine friedliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts erreicht werden? Hier sprechen sich Reform- und liberale Bewegungen fast einhellig für eine Zwei-Staaten-Lösung aus, die sowohl Israelis als auch Palästinenser:innen gerechte Teilhabe ermöglicht . Der Reform-Dachverband in den USA (Union for Reform Judaism, URJ) hat z.B. mehrfach Resolutionen verabschiedet, die Verhandlungen und Kompromisse auf beiden Seiten einfordern – von den Palästinenser:innen die Erfüllung ihrer Verpflichtungen zur Sicherheit und von Israel die Bereitschaft, auch schwierige Fragen wie Siedlungen, Grenzziehungen, Jerusalem und Flüchtlinge in Endstatus-Verhandlungen anzugehen. Liberale Zionist:innen unterstützen Initiativen, die den Dialog fördern, und begrüßen internationale Vermittlung, um die Vision von zwei friedlich koexistierenden Staaten voranzubringen. 
  • Israels Werte und Politik: Ein weiteres zentrales Thema ist, wie Israel seine demokratischen und liberalen Werte bewahrt. Liberale Jüd:innen beobachten genau die innenpolitischen Entwicklungen in Israel. Positiv wird hervorgehoben, dass Israel – einzigartig in der Region – seit seiner Gründung eine parlamentarische Demokratie ist und freie Wahlen abhält. Dennoch gibt es Sorge über Tendenzen, die liberale Substanz Israels auszuhöhlen. Streitpunkte sind z.B.: der Einfluss religiös-fundamentalistischer Parteien, Fragen der Rechtsstaatlichkeit (etwa aktuelle Debatten über eine Justizreform), der Umgang mit Minderheiten (arabische Israelis, LGBTQ-Community) oder die Behandlung von Asylsuchenden. Aus liberaler Sicht gehört zum Zionismus untrennbar, dass Israel ein demokratischer und pluralistischer Staat bleibt, wie es auch in Herzls ursprünglicher Vision angelegt war. Wenn etwa ultra-nationalistische Stimmen anti-demokratische Maßnahmen fordern, sehen liberale Zionist:innen es als ihre Aufgabe, dagegen Einspruch zu erheben – in Israel selbst und in der Diaspora. Simpel gesagt lautet ihr Credo: Die Verteidigung Israels nach außen (gegen Delegitimierung) und die Verteidigung der Demokratie nach innen sind zwei Seiten derselben Medaille.
  • Religiöse Pluralität: In Israel selbst gibt es bis heute einen Konflikt zwischen orthodoxer Vormachtstellung und liberalem Judentum. Offiziell werden Reform- und konservative Rabbiner:innen in vielen Belangen (Eheschließung, Konversion, Religionsunterricht) nicht anerkannt. Die liberalen jüdischen Strömungen kämpfen daher für religiöse Gleichberechtigung in Israel. So setzt sich die Israel Movement for Reform and Progressive Judaism (IMPJ) dafür ein, dass Reformgemeinden und -rabbiner:innen als legitimer jüdischer Zweig staatliche Anerkennung finden. Dieses Anliegen wird von liberalen Zionist:innen als Teil des zionistischen Projekts verstanden – nämlich Israel zu einem Zuhause für alle Jüd:innen zu machen, unabhängig von ihrer theologischen Ausrichtung . Organisationen wie das Israel Religious Action Center (IRAC) treten juristisch dafür ein, Religionsfreiheit und Gewissensfreiheit in Israel zu verteidigen und die Dominanz der Orthodoxie aufzubrechen, zugunsten eines breiter inklusiven Judentums . Diese Bemühungen sind ein gutes Beispiel dafür, wie liberale Jüd:innen Zionismus heute interpretieren: nicht nur als Errichtung von Institutionen, sondern als ständigen Einsatz für die Qualität des jüdischen Staates im Sinne von Offenheit und Toleranz.


Trotz der grundsätzlich positiven Bindung an Israel sehen sich liberale jüdische Strömungen mit diversen Herausforderungen konfrontiert. In westlichen Gesellschaften wächst insbesondere an Universitäten und in linken Kreisen eine kritische bis feindliche Haltung gegenüber Zionismus (Stichwort Antizionismus). Liberale Jüd:innen versuchen hier, zu differenzieren: Sie wehren sich gegen pauschale Dämonisierung Israels – etwa die Gleichsetzung von Zionismus mit Kolonialismus oder Rassismus – und betonen die legitimen historischen Gründe für Zionismus (Schutz vor Verfolgung, Selbstbestimmung) . Gleichzeitig nehmen sie ernst, dass manche israelische Regierungspolitiken international Kritik hervorrufen. Die Gratwanderung besteht darin, Israel zu verteidigen, ohne Unrecht zu leugnen: Progressive Zionisten geben zu, dass „im Namen des Zionismus“ auch moralisch fragwürdige Handlungen vorkamen oder vorkommen, beharren aber darauf, dass der Kern des Zionismus eine zutiefst liberale Idee sei – nämlich die Befreiung eines unterdrückten Volkes und die Gründung eines Staates, der für alle Bürger:innen Gleichheit anstrebt. Eine weitere Herausforderung ist innerjüdisch: Junge liberale Jüd:innen sind mit Israel oft weniger emotional verbunden als frühere Generationen. Durch die mediale Berichterstattung über den Nahostkonflikt und globale Gerechtigkeitsdiskurse stellen manche junge progressive Jüd:innen den Zionismus infrage oder distanzieren sich zumindest teilweise. Liberale Gemeinden bemühen sich daher, Bildungsarbeit zu leisten – etwa durch Israel-Reisen, Dialogprogramme und Aufklärung – um zu vermitteln, warum Israel weiterhin wichtig ist und wie man als progressiver Mensch zugleich Zionist:in sein kann. Dieses Ringen um die nachwachsende Generation ist in vielen Gemeinden spürbar: Wie erklärt man die Komplexität Israels und bindet die Jugend, ohne die eigenen Werte von Menschenrechten und Gleichheit zu verraten? Hier versuchen Reformrabbiner:innen und -lehrer:innen authentische Gespräche zu führen, in denen auch Kritik an Israel Raum haben darf, aber stets im Kontext einer partnerschaftlichen Verbundenheit.


Liberale jüdische Strömungen sehen auch klare Chancen und positive Entwicklungen im heutigen Zionismus. Zum einen eröffnet die Existenz des Staates Israel beispiellose Möglichkeiten für jüdisches Leben – kulturell, spirituell und sozial. Progressive Jüd:innen weltweit beteiligen sich am israelischen Gesellschaftsleben, gründen Reformgemeinden in Israel, fördern soziale Gerechtigkeitsprojekte und bringen ihre Werte ein (z.B. Einsatz für Gleichstellung der Frau, LGBTQ-Rechte, Minderheitenschutz). Zum anderen ermöglicht die globale Vernetzung – etwa im Weltzionistenkongress und Organisationen wie Arzenu – den liberalen Jüd:innen, Einfluss auf die Zukunft des Zionismus zu nehmen. So werden im World Zionist Congress Delegierte der Reformbewegung gewählt, die dann Mittel für progressive Bildung, für interreligiösen Dialog und für den Kampf gegen Rassismus und Geschlechtertrennung in Israel steuern können. Diese Partizipation ist eine Chance, Zionismus aktiv mitzugestalten. Eine weitere Chance liegt in der Vorbildfunktion: Wenn es gelingt, Israels liberale Demokratie zu stärken, könnte Israel in einer konfliktreichen Region als Modell für pluralistisches Zusammenleben dienen. Liberale Zionist:innen verweisen stolz darauf, dass Israel trotz aller Probleme seit 75 Jahren ununterbrochen demokratisch regiert wird und etwa Frauen vom ersten Tag an das Wahlrecht hatten – was in vielen anderen neuen Staaten nicht der Fall war. Die Verteidigung dieser Demokratie und ihre Weiterentwicklung (etwa durch eine schriftliche Verfassung, Stärkung von Minderheitenrechten usw.) sehen sie als ihre Mission. Gelingt dies, so das Kalkül, behält Zionismus seine moralische Legitimation und Attraktivität für kommende Generationen. Schließlich bietet die enge Kooperation zwischen Israel und der Diaspora Chancen für beide Seiten: Liberale Juden wünschen sich einen Austausch, in dem Israel Impulse von außen bekommt (z.B. in Umweltfragen oder sozialen Innovationen) und umgekehrt die Diaspora-Jüd:innen durch Israel eine stärkere kulturelle Identität. Programme wie Taglit/Birthright oder studentische Auslandsjahre in Israel werden von Reformorganisationen unterstützt, um Bindungen zu stärken.

Aus der Perspektive des Reformjudentums sollte der Zionismus in Zukunft vor allem seine idealen Ziele voll verwirklichen. Dazu zählt an erster Stelle, dass Israel dauerhaft ein demokratischer und rechtsstaatlicher Staat bleibt, der die religiöse und gesellschaftliche Pluralität fördert. Die Vision ist ein Israel, das „eine Gesellschaft [ist], die sowohl demokratische Werte als auch religiöse Pluralität widerspiegelt“ – so formuliert es ein Grundsatztext des Reformzionismus. Konkret bedeutet das: Reformjüd:innen wünschen sich ein Israel, in dem unterschiedliche Strömungen des Judentums friedlich koexistieren und gleichberechtigt sind und in dem soziale Gerechtigkeit herrscht. Die Reformbewegung betont den prophetischen Auftrag, wonach Israel ein Land sein soll, das den Idealen Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden verpflichtet ist – für alle seine Bewohner:innen. Eine wünschenswerte Zukunft des Zionismus wäre daher die Umsetzung genau dieser Werte aus Israels Unabhängigkeitserklärung: vollständige Gleichberechtigung ungeachtet von Religion oder Herkunft, Achtung der Menschenwürde und der Minderheitenrechte, sowie das Vorantreiben des Friedens. In dieser Zukunftsvision spielt auch die Beilegung des Konflikts mit den Palästinenser:innen eine wichtige Rolle. Ein dauerhafter Friede – idealerweise durch zwei Staaten oder eine andere einvernehmliche Lösung – würde es Israel ermöglichen, sich ganz auf den inneren Aufbau einer vorbildlichen Gesellschaft zu konzentrieren. Liberale Jüd:innen betrachten Frieden nicht als Utopie, sondern als ethische Verpflichtung des Zionismus für die kommenden Jahrzehnte.


Realistisch gesehen steht der Zionismus vor der Aufgabe, sich im 21. Jahrhundert neu zu definieren. War er im 20. Jahrhundert stark vom Überlebenskampf und Aufbau geprägt, könnte der Schwerpunkt sich nun hin zu qualitativen Fragen verlagern: Was für ein Staat soll Israel sein? Reformjüd:innen hoffen, dass Zionismus sich von einem reinen Nationalismus zu einer Art gesellschaftlichem Humanismus weiterentwickelt. So könnte die Zukunft des Zionismus vermehrt Projekte einschließen, die Tikkun Olam global fördern – z.B. Klimaschutz, humanitäre Hilfe und soziale Innovationen – mit Israel als Drehscheibe jüdischen Engagements. Denkbar ist, dass Israel durch die Anbindung an weltweite progressive jüdische Netzwerke selbst liberaler wird, während umgekehrt die Erfolge (aber auch Lektionen) Israels an die Diaspora zurückfließen. Einige progressive Denker:innen sprechen in diesem Zusammenhang von „Post-Zionismus“ – nicht im Sinne einer Ablehnung des Zionismus, sondern im Sinne eines gereiften Zionismus, der sich nicht mehr nur über die Erringung staatlicher Souveränität definiert, sondern darüber, wie dieser Staat zur Verwirklichung jüdischer Ethik beiträgt. Reformjüd:innen würden es begrüßen, wenn Israel in Zukunft noch stärker ein Labor für jüdische Pluralität wird: ein Ort, an dem Reform-, konservative, orthodoxe und auch säkulare Jüd:innen gemeinsam die jüdische Kultur weiterentwickeln. Möglich wäre z.B., dass nicht allein in Jerusalem, sondern auch in der Diaspora entstehende Ideen (etwa neue liturgische Formen, progressive Bildungskonzepte) national Beachtung finden. Die gegenseitige Befruchtung zwischen Israel und Diaspora dürfte an Bedeutung gewinnen – Zionismus verstanden als weltweites Gemeinschaftsprojekt des Judentums.


Insgesamt bleibt Zionismus aus liberaler Sicht eine dynamische Bewegung. Anders als dogmatische Strömungen, die Zionismus als unveränderliches Credo sehen, begreift die reformjüdische Perspektive Zionismus als einen Prozess, der sich immer wieder an den Kernwerten des Judentums messen muss. Die Zukunft des Zionismus wird daran entschieden, ob es gelingt, Herzls Traum eines liberalen, inklusiven jüdischen Gemeinwesens vollständig zu verwirklichen – „mit gleichen Rechten für alle Bürger, Juden wie Araber“, wie Herzl es in seinem utopischen Roman Altneuland beschrieb . Liberale Juden sehen hierin keine naive Hoffnung, sondern einen Auftrag: Solange dieses Ideal noch nicht erreicht ist, bleibt Zionismus eine Aufgabe für jede Generation. Reformjüdische Stimmen betonen dabei die Zuversicht, dass Israel sich weiterentwickeln kann. Die Erfolge – etwa Israels stabile Demokratie und lebendige Zivilgesellschaft – sollen ausgebaut, Fehlentwicklungen korrigiert werden. Zionismus soll auch in Zukunft „ein wahrer Erbe der prophetischen Tradition“ sein , wie es im Leitbild der Reformbewegung heißt, und somit einen Beitrag leisten, die Welt ein Stück gerechter und besser zu machen.